Betreff
Bildungskarte
Vorlage
50/0770/XVII/2021
Art
Beschlussvorlage

Beschlussempfehlung:

Der Ausschuss für Soziales und Wohnen bittet die Verwaltung die Erbringungsform im Bereich Bildung und Teilhabe im Regelfall auf Geldleistungen umzustellen.

 


Sachverhalt:

Mit Antrag vom 02.12.2020 bitten die Kreistagsfraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN um Einführung einer Bildungskarte zur Sicherstellung der gleichberechtigten Teilhabe aller anspruchsberechtigten Kinder und Jugendlichen. Zudem soll die Kreisverwaltung die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um eine niederschwellige und proaktive Information der Anspruchsberechtigten zu gewährleisten.

 

Auf die Bildungskarte soll für den gesamten Bewilligungszeitraum im Voraus ein Guthaben in Höhe des Pauschalbetrages von 15 Euro monatlich für die Leistungen nach § 28 Abs. 7 SGB II/ §34 Abs. 7 SGB XII geladen werden. Leistungen nach § 28 Abs. 7 SGB II/ §34 Abs. 7 SGB XII sind Bedarfe der Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gesellschaft und umfassen Aufwendungen für Aktivitäten in den Bereichen Sport, Spiel, Kultur und Geselligkeit, für Unterricht in künstlerischen Fächern und vergleichbaren angeleiteten Aktivitäten der kulturellen Bildung sowie für Freizeiten. Zusätzlich sollen auf der Bildungskarte Pauschalbeträge für Klassenfahrten, Ausflüge und die gemeinsame Mittagsverpflegung gespeichert werden. Die mit dem Guthaben aufgeladene Bildungskarte soll jede/r Anspruchsberechtigte/r erhalten, unabhängig von der tatsächlichen Inanspruchnahme.

 

Die Kreisverwaltung hat die Einführung der Bildungskarte geprüft. Marktführendes Unternehmen ist die Firma Sodexo, die Prüfung orientiert sich am konkreten Leistungsspektrum des Unternehmens. Die Angebote anderer Anbieter (z.B. Syrcon) sind vergleichbar.

 

Die Firma Sodexo bietet Lösungen zur Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepaketes und nutzt dafür die Website Bildungskarte.org. Die Zugänge für die erforderlichen Stellen werden durch das Unternehmen eingerichtet, diese Einrichtung nimmt drei bis vier Monate in Anspruch. Das System der Firma Sodexo ist kompatibel mit den gängigen Sozialhilfefachverfahren wie Open ProSoz, LÄMMkomm, AKDN und AKDB und ermöglicht die Schaffung von Schnittstellen. Eine Kompatibilität mit dem durch das Jobcenter Rhein-Kreis Neuss genutzten Fachverfahren ALLEGRO liegt nicht vor. Die Firma Sodexo rechnet monatlich direkt mit den Leistungsbehörden ab, die Auszahlung an die Leistungsberechtigten erfolgt über Sodexo.

 

Die Kosten der Bildungskarte setzen sich aus den einmaligen Einrichtungskosten und den jährlich anfallenden Kosten zusammen. Die Einrichtungskosten belaufen sich auf 5.000 €- 9000 €, in Abhängigkeit von der Anzahl der beteiligten Stellen. Die jährlichen Kosten ergeben sich aus den monatlichen Nutzungsgebühren der Karten. Der Stückpreis der Karte variiert zwischen 0,90 € und 1,50 €, je nach Anzahl der leistungsberechtigten Nutzer. Nachfolgender Tabelle lassen sich die jährlichen Kosten in Abhängigkeit der Stückpreise entnehmen:

 

Leistungsberechtigte

Stückpreis/Karte

Jährliche Kosten

15.000

0,90 €

162.000 €

15.000

1,00 €

180.000 €

15.000

1,20 €

216.000 €

15.000

1,50 €

270.000 €

 

 

 

Mit der Bildungskarte können die Leistungsberechtigten flexibler, bequemer und selbstbestimmter über ihr Guthaben verfügen. Zudem weist das System der Firma Sodexo eine höhere Anwenderfreundlichkeit als das Anbieterverzeichnis des Rhein-Kreises Neuss auf. Aufgrund der monatlichen Abrechnungsläufe wird die Leistung zeitnah an die Leistungsberechtigten ausgezahlt. Zur Nutzung der Bildungskarte ist ein internetfähiges Endgerät ausreichend, teure und wartungsintensive Kartenterminals sind nicht erforderlich.

 

Die Einführung der Bildungskarte widerspricht dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit. Allein die jährlichen Kosten liegen um 8.000 € - 100.000 € über dem Aufwand der im Jahr 2020 abgerufenen Teilhabeleistungen in Höhe von 169.616,51 €. Es entsteht ein enormer Mehraufwand ohne eine Steigerung des Leistungsabrufes zu gewährleisten.

 

Der Stigmatisierungseffekt bleibt auch bei Einführung der Bildungskarte bestehen, nur anspruchsberechtigte Kinder und Jugendliche erhalten die Karte. Die Zahlung mit der Bildungskarte bedeutet somit immer auch eine Offenlegung des Leistungsbezugs.

 

Für die Leistungsbehörden geht die Einführung der Bildungskarte mit einem erhöhten Verwaltungsaufwand einher. Aufgrund der mangelnden Kompatibilität mit dem durch das Jobcenter Rhein-Kreis Neuss genutzten Fachverfahren ALLEGRO ist die Führung von Parallelsystemen erforderlich. Die Leistungen zum Lebensunterhalt werden weiterhin über das Fachverfahren ALLEGRO ausgezahlt, die entsprechenden Datensätze für den Bereich Bildung und Teilhabe müssen aufgrund der fehlenden Schnittstelle händisch in das System der Firma Sodexo eingepflegt werden. Die Eingabe von ca. 6.500 Datensätzen ist nicht durch vorhandenes Personal zu leisten, hier ist mit zwei zusätzlich zu schaffenden Stellen des mittleren Dienstes (A 7) zu rechnen. Dies entspricht hinzukommenden Personalkosten in Höhe von ca. 145.100 € (auf Basis des aktuellen KGSt-Berichts).

 

Eine Verpflichtung der Leistungsanbietenden zur Nutzung des Systems der Firma Sodexo ist nicht möglich. Das bestehende Anbieterverzeichnis muss weiterhin gepflegt und aktualisiert werden, auch hier werden Parallelsysteme geschaffen. Die Rückmeldung der Leistungsbehörden hat ergeben, dass Leistungen der Bildung und Teilhabe u. a. deswegen nicht abgerufen werden, weil die Leitungsanbietenden sich nicht in der Anbieterdatenbank des Rhein-Kreises Neuss registrieren lassen möchten. Es ist davon auszugehen, dass dies auch für die Registrierung im System der Firma Sodexo zutrifft.

 

Die Einführung der Bildungskarte führt zu einem Verwaltungsmehraufwand, der in keinem Verhältnis zum Nutzen steht. Neben der Schaffung und Pflege von Parallelsystemen entstehen zusätzliche jährliche Kosten in Höhe von ca. 307.000 € - 415.000 €; diese Kosten fallen unabhängig von der Inanspruchnahme der Bildungs- und Teilhabeleistungen an.

 

Eine Steigerung des Leistungsabrufes ist jedoch allein aufgrund der Einführung der Bildungskarte nicht ersichtlich. Der Stigmatisierungseffekt, der maßgeblich die Erreichung aller anspruchsberechtigten Kinder und Jugendlichen beeinflusst, bleibt weiterhin bestehen. Die Bildungskarte trägt somit nicht zur Sicherstellung der gleichberechtigten Teilhabe aller anspruchsberechtigten Kinder und Jugendlichen bei.

 

Der Bezug von Leistungen der Bildung und Teilhabe wird als stigmatisierend empfunden, was den Leistungszugang erschwert. Aus diesem Grund müssen stigmatisierungsfreie Bedingungen geschaffen werden. Die aktuell genutzten Erbringungswege Direktzahlung und Gutschein gehören zu den stigmatisierungsintensivsten Hürden zur Beantragung von Leistungen der Bildung und Teilhabe, eine Erbringung als Geldleistung stellt den stigmatisierungsärmsten Erbringungsweg dar.

 

Eine Erbringung als Geldleistung ist durch die im Rahmen der Einführung des Starke-Familien-Gesetzes neugefassten §§ 29 SGB II und 34a SGB XII möglich und liegt im Ermessen des Sozialleistungsträgers.

 

Durch die Umstellung der Erbringungsform auf Geldleistung entfallen die Preisgabe des Leistungsbezugs und der damit einhergehende Stigmatisierungseffekt, die mit der Vorlage eines Gutscheins oder einer Karte zusammenhängen. Die Leistungsanbietenden erlangen bei den bisher angewandten Verfahren der Leistungserbringung stets Kenntnis über den Leistungsbezug, insbesondere auf Vereinsebene sind die Leistungsanbietenden jedoch Teil des Bekannten- und Freundeskreises. Eine Offenlegung des Bezugs wird hier als besonders stigmatisierend empfunden.

 

Es ist gemäß § 1 SGB II die Aufgabe der Sozialhilfe, die Eigenverantwortung der Leistungsberechtigten zu stärken und dazu beizutragen, dass diese ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten können. Eigenverantwortung meint auch den selbstbestimmten und verantwortungsvollen Umgang mit der ausgezahlten Sozialleistung.

 

Zudem zeigt die Praxis die Notwendigkeit der vermehrten Nutzung der Erbringung als Geldleistung, da die Leistungserbringung im Wege von Sach- und Dienstleistungen mit hohem Aufwand für die Verwaltung einhergeht. Die Leistungsbehörden sind bei den zur Zeit angewandten Verfahren sowohl Ansprechpartner für die Leistungsberechtigten, als auch für die Leistungsanbietenden. Dies hat eine doppelte Kommunikation zur Folge, die Personalressourcen in erheblichem Umfang bindet.

 

Eine Steigerung des Leistungsabrufs ist zentraler Gedanke der Erbringungsformumstellung. Aus diesem Anlass wird verstärkt auf die Beratung der Leistungsberechtigten und die Information der Öffentlichkeit abgestellt. Zur Umsetzung des Hinwirkungsgebotes gemäß § 4 Abs. 2 SGB II ist die Verwaltung bereits im Gespräch mit der Leitung des Jobcenters Rhein-Kreis Neuss.

 

Darüber hinaus ist die gezielte Information möglicher Anspruchsberechtigter in den Schulen, Kindertagesstätten, Vereinen oder bei öffentlichen Veranstaltungen im Kreisgebiet geplant. Die Präsenz in den sozialen Medien wird ausgebaut. Die kreisweite Homepage zum Bildungs- und Teilhabepaket wird neu gestaltet, zu diesem Zweck wird die Textinformation in „Leichter Sprache“ dargestellt, die Übersetzung erfolgt durch das Büro für Leichte Sprache der Lebenshilfe Rhein-Kreis Neuss. Es stehen Erklärfilme zur Verfügung, die das Bildungs- und Teilhabepaket leicht verständlich veranschaulichen. Aktuelle Änderungen werden bereits regelmäßig als Pressemitteilungen auf der Homepage des Rhein-Kreises Neuss sowie auf Facebook veröffentlicht.

 

Die von der Verwaltung angestrebte Erbringungsformumstellung wurde den Sozialdezernentinnen und Sozialdezernenten der kreisangehörigen Kommunen zur Prüfung vorgestellt. Die Stadt Dormagen hat daraufhin Bedenken hinsichtlich sogenannter „P-Konten“ und der Mittagsverpflegung geäußert, die Stadt Kaarst teilt diese Ansicht und sieht darüber hinaus Schwierigkeiten im Bereich der (Schul-)Ausflüge aufgrund möglicher Kontoüberziehungen.

 

„P-Konten“ unterliegen dem Pfändungsschutz bis zur Pfändungsfreigrenze. Die Stadt Dormagen fürchtet eine Pfändung der Bildungs- und Teilhabeleistungen oberhalb der Pfändungsfreigrenze, wodurch die Leistung den Anspruchsberechtigten nicht zur Verfügung stehen würde.

 

Sozialleistungen sind grundsätzlich gemäß § 54 SGB I unpfändbar. Die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepaketes stellen personalisierte Dienst- und Sachleistungen dar, die gemäß § 54 Abs. 1 SGB I unpfändbar sind. Darüber hinaus sind Leistungen des Kindes gemäß § 54 Abs. 5 SGB I nur aufgrund gesetzlicher Unterhaltsansprüche pfändbar.

 

(Schul-)Ausflüge werden als Einmalzahlung in tatsächlicher Höhe erbracht. Die Stadt Kaarst ist der Auffassung, dass dies eine Gefahr bergen könnte, wenn Girokonten überzogen werden und Überweisungen nicht mehr zulässig sind.

 

Das Jobcenter Rhein-Kreis Neuss wurde in seiner Funktion als größte kreisangehörige Leistungsbehörde auf Ebene der Sachbearbeitung um eine Einschätzung gebeten. Aus der Praxis sind hier keine Probleme mit „P-Konten“ oder möglichen Kontoüberziehungen bekannt, den Leistungsberechtigten wird eine Bescheinigung über den Leistungsbezug zur Vorlage bei den Kreditinstituten ausgestellt. Eine Pfändung von Sozialleistungen erfolgt nicht, unzulässige Überweisungen aufgrund von Kontoüberziehungen sind nicht bekannt. Die Bedenken, dass Bildungs- und Teilhabeleistungen gepfändet werden könnten, werden daher nicht geteilt.

 

Darüber hinaus bewertet die Stadt Dormagen das aktuelle Vorgehen bei der gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung (Direktzahlung) als positiv und zielführend. Bei einer Umstellung der Erbringungsform wird mit einem erheblichen Mehraufwand, der sich auch auf den Bereich Finanzen/Vollstreckung auswirken könnte, gerechnet. Vor diesem Hintergrund schlägt die Stadt Kaarst eine Erprobungsphase vor, in der zunächst selektive Leistungen als Geldleistung erbracht werden.

 

Die Kreisverwaltung sieht einen vorübergehenden Mehraufwand im Zuge der Erbringungsformumstellung ebenfalls als sehr wahrscheinlich an. Die Entstigmatisierung und die Stärkung der Eigenverantwortung der Leistungsberechtigten sind aus Sicht der Verwaltung jedoch stärker zu gewichten. Ein Großteil der anspruchsberechtigten Kinder und Jugendlichen bezieht Leistungen der gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung. Eine Ausklammerung dieser Leistungskomponente aus der Erbringungsformumstellung würde der beabsichtigten Regelung und der damit einhergehenden Entstigmatisierung entgegenwirken.

 

Die Kreisverwaltung stellt die wesentlichen Entscheidungsgründe für eine Umstellung auf die Erbringungsform der Geldleistung detailliert in der Sitzung vor.

 

 

 

 

 

Digitalisierungs-TÜV
(   ) Digitalisierungspotential vorhanden.

(   ) Digitalisierungspotential muss geprüft werden.

(x) Kein Digitalisierungspotential (derzeit) erkennbar.