Beschlussempfehlung:
Der Ausschuss für Soziales und Wohnen bittet die Verwaltung die Erbringungsform im Bereich Bildung und Teilhabe im Regelfall auf Geldleistungen umzustellen.
Sachverhalt:
Mit Antrag vom 02.12.2020 bitten die
Kreistagsfraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN um Einführung einer
Bildungskarte zur Sicherstellung der gleichberechtigten Teilhabe aller
anspruchsberechtigten Kinder und Jugendlichen. Zudem soll die Kreisverwaltung
die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um eine niederschwellige und proaktive
Information der Anspruchsberechtigten zu gewährleisten.
Auf die Bildungskarte soll für den gesamten
Bewilligungszeitraum im Voraus ein Guthaben in Höhe des Pauschalbetrages von 15
Euro monatlich für die Leistungen nach § 28 Abs. 7 SGB II/ §34 Abs. 7 SGB XII
geladen werden. Leistungen nach § 28 Abs. 7 SGB II/ §34 Abs. 7 SGB XII sind
Bedarfe der Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gesellschaft und
umfassen Aufwendungen für Aktivitäten in den Bereichen Sport, Spiel, Kultur und
Geselligkeit, für Unterricht in künstlerischen Fächern und vergleichbaren
angeleiteten Aktivitäten der kulturellen Bildung sowie für Freizeiten.
Zusätzlich sollen auf der Bildungskarte Pauschalbeträge für Klassenfahrten,
Ausflüge und die gemeinsame Mittagsverpflegung gespeichert werden. Die mit dem
Guthaben aufgeladene Bildungskarte soll jede/r Anspruchsberechtigte/r erhalten,
unabhängig von der tatsächlichen Inanspruchnahme.
Die Kreisverwaltung hat die Einführung der
Bildungskarte geprüft. Marktführendes Unternehmen ist die Firma Sodexo, die
Prüfung orientiert sich am konkreten Leistungsspektrum des Unternehmens. Die
Angebote anderer Anbieter (z.B. Syrcon) sind vergleichbar.
Die Firma Sodexo bietet Lösungen zur Umsetzung des
Bildungs- und Teilhabepaketes und nutzt dafür die Website Bildungskarte.org.
Die Zugänge für die erforderlichen Stellen werden durch das Unternehmen
eingerichtet, diese Einrichtung nimmt drei bis vier Monate in Anspruch. Das
System der Firma Sodexo ist kompatibel mit den gängigen
Sozialhilfefachverfahren wie Open ProSoz, LÄMMkomm, AKDN und AKDB und
ermöglicht die Schaffung von Schnittstellen. Eine Kompatibilität mit dem durch
das Jobcenter Rhein-Kreis Neuss genutzten Fachverfahren ALLEGRO liegt nicht
vor. Die Firma Sodexo rechnet monatlich direkt mit den Leistungsbehörden ab,
die Auszahlung an die Leistungsberechtigten erfolgt über Sodexo.
Die Kosten der Bildungskarte setzen sich aus den
einmaligen Einrichtungskosten und den jährlich anfallenden Kosten zusammen. Die
Einrichtungskosten belaufen sich auf 5.000 €- 9000 €, in Abhängigkeit von der
Anzahl der beteiligten Stellen. Die jährlichen Kosten ergeben sich aus den
monatlichen Nutzungsgebühren der Karten. Der Stückpreis der Karte variiert
zwischen 0,90 € und 1,50 €, je nach Anzahl der leistungsberechtigten Nutzer.
Nachfolgender Tabelle lassen sich die jährlichen Kosten in Abhängigkeit der
Stückpreise entnehmen:
Leistungsberechtigte |
Stückpreis/Karte |
Jährliche Kosten |
15.000 |
0,90 € |
162.000 € |
15.000 |
1,00 € |
180.000 € |
15.000 |
1,20 € |
216.000 € |
15.000 |
1,50 € |
270.000 € |
Mit der Bildungskarte können die Leistungsberechtigten
flexibler, bequemer und selbstbestimmter über ihr Guthaben verfügen. Zudem
weist das System der Firma Sodexo eine höhere Anwenderfreundlichkeit als das
Anbieterverzeichnis des Rhein-Kreises Neuss auf. Aufgrund der monatlichen
Abrechnungsläufe wird die Leistung zeitnah an die Leistungsberechtigten
ausgezahlt. Zur Nutzung der Bildungskarte ist ein internetfähiges Endgerät
ausreichend, teure und wartungsintensive Kartenterminals sind nicht
erforderlich.
Die Einführung der Bildungskarte widerspricht dem
Grundsatz der Wirtschaftlichkeit. Allein die jährlichen Kosten liegen um 8.000
€ - 100.000 € über dem Aufwand der im Jahr 2020 abgerufenen Teilhabeleistungen
in Höhe von 169.616,51 €. Es entsteht ein enormer Mehraufwand ohne eine
Steigerung des Leistungsabrufes zu gewährleisten.
Der Stigmatisierungseffekt bleibt auch bei Einführung
der Bildungskarte bestehen, nur anspruchsberechtigte Kinder und Jugendliche
erhalten die Karte. Die Zahlung mit der Bildungskarte bedeutet somit immer auch
eine Offenlegung des Leistungsbezugs.
Für die Leistungsbehörden geht die Einführung der
Bildungskarte mit einem erhöhten Verwaltungsaufwand einher. Aufgrund der
mangelnden Kompatibilität mit dem durch das Jobcenter Rhein-Kreis Neuss
genutzten Fachverfahren ALLEGRO ist die Führung von Parallelsystemen
erforderlich. Die Leistungen zum Lebensunterhalt werden weiterhin über das
Fachverfahren ALLEGRO ausgezahlt, die entsprechenden Datensätze für den Bereich
Bildung und Teilhabe müssen aufgrund der fehlenden Schnittstelle händisch in
das System der Firma Sodexo eingepflegt werden. Die Eingabe von ca. 6.500
Datensätzen ist nicht durch vorhandenes Personal zu leisten, hier ist mit zwei
zusätzlich zu schaffenden Stellen des mittleren Dienstes (A 7) zu rechnen. Dies
entspricht hinzukommenden Personalkosten in Höhe von ca. 145.100 € (auf Basis
des aktuellen KGSt-Berichts).
Eine Verpflichtung der Leistungsanbietenden zur
Nutzung des Systems der Firma Sodexo ist nicht möglich. Das bestehende Anbieterverzeichnis
muss weiterhin gepflegt und aktualisiert werden, auch hier werden
Parallelsysteme geschaffen. Die Rückmeldung der Leistungsbehörden hat ergeben,
dass Leistungen der Bildung und Teilhabe u. a. deswegen nicht abgerufen werden,
weil die Leitungsanbietenden sich nicht in der Anbieterdatenbank des
Rhein-Kreises Neuss registrieren lassen möchten. Es ist davon auszugehen, dass
dies auch für die Registrierung im System der Firma Sodexo zutrifft.
Die Einführung der Bildungskarte führt zu einem Verwaltungsmehraufwand,
der in keinem Verhältnis zum Nutzen steht. Neben der Schaffung und Pflege von
Parallelsystemen entstehen zusätzliche jährliche Kosten in Höhe von ca.
307.000 € - 415.000 €; diese Kosten fallen unabhängig von der
Inanspruchnahme der Bildungs- und Teilhabeleistungen an.
Eine Steigerung des Leistungsabrufes ist jedoch allein
aufgrund der Einführung der Bildungskarte nicht ersichtlich. Der
Stigmatisierungseffekt, der maßgeblich die Erreichung aller
anspruchsberechtigten Kinder und Jugendlichen beeinflusst, bleibt weiterhin
bestehen. Die Bildungskarte trägt somit nicht zur Sicherstellung der
gleichberechtigten Teilhabe aller anspruchsberechtigten Kinder und Jugendlichen
bei.
Der Bezug von Leistungen der Bildung und Teilhabe wird als stigmatisierend empfunden, was den Leistungszugang erschwert. Aus diesem Grund müssen stigmatisierungsfreie Bedingungen geschaffen werden. Die aktuell genutzten Erbringungswege Direktzahlung und Gutschein gehören zu den stigmatisierungsintensivsten Hürden zur Beantragung von Leistungen der Bildung und Teilhabe, eine Erbringung als Geldleistung stellt den stigmatisierungsärmsten Erbringungsweg dar.
Eine Erbringung als Geldleistung ist durch die im
Rahmen der Einführung des Starke-Familien-Gesetzes neugefassten §§ 29 SGB II
und 34a SGB XII möglich und liegt im Ermessen des Sozialleistungsträgers.
Durch die Umstellung der Erbringungsform auf
Geldleistung entfallen die Preisgabe des Leistungsbezugs und der damit
einhergehende Stigmatisierungseffekt, die mit der Vorlage eines Gutscheins oder
einer Karte zusammenhängen. Die Leistungsanbietenden erlangen bei den bisher
angewandten Verfahren der Leistungserbringung stets Kenntnis über den
Leistungsbezug, insbesondere auf Vereinsebene sind die Leistungsanbietenden jedoch
Teil des Bekannten- und Freundeskreises. Eine Offenlegung des Bezugs wird hier
als besonders stigmatisierend empfunden.
Es ist gemäß § 1 SGB II die Aufgabe der Sozialhilfe,
die Eigenverantwortung der Leistungsberechtigten zu stärken und dazu
beizutragen, dass diese ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung
aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten können. Eigenverantwortung meint
auch den selbstbestimmten und verantwortungsvollen Umgang mit der ausgezahlten
Sozialleistung.
Zudem zeigt die Praxis die Notwendigkeit der
vermehrten Nutzung der Erbringung als Geldleistung, da die Leistungserbringung
im Wege von Sach- und Dienstleistungen mit hohem Aufwand für die Verwaltung
einhergeht. Die Leistungsbehörden sind bei den zur Zeit angewandten Verfahren
sowohl Ansprechpartner für die Leistungsberechtigten, als auch für die
Leistungsanbietenden. Dies hat eine doppelte Kommunikation zur Folge, die
Personalressourcen in erheblichem Umfang bindet.
Eine Steigerung des Leistungsabrufs ist zentraler Gedanke
der Erbringungsformumstellung. Aus diesem Anlass wird verstärkt auf die
Beratung der Leistungsberechtigten und die Information der Öffentlichkeit
abgestellt. Zur Umsetzung des Hinwirkungsgebotes gemäß § 4 Abs. 2 SGB II ist
die Verwaltung bereits im Gespräch mit der Leitung des Jobcenters Rhein-Kreis
Neuss.
Darüber hinaus ist die gezielte Information möglicher
Anspruchsberechtigter in den Schulen, Kindertagesstätten, Vereinen oder bei
öffentlichen Veranstaltungen im Kreisgebiet geplant. Die Präsenz in den
sozialen Medien wird ausgebaut. Die kreisweite Homepage zum Bildungs- und
Teilhabepaket wird neu gestaltet, zu diesem Zweck wird die Textinformation in
„Leichter Sprache“ dargestellt, die Übersetzung erfolgt durch das Büro für
Leichte Sprache der Lebenshilfe Rhein-Kreis Neuss. Es stehen Erklärfilme zur
Verfügung, die das Bildungs- und Teilhabepaket leicht verständlich
veranschaulichen. Aktuelle Änderungen werden bereits regelmäßig als
Pressemitteilungen auf der Homepage des Rhein-Kreises Neuss sowie auf Facebook
veröffentlicht.
Die von der Verwaltung angestrebte
Erbringungsformumstellung wurde den Sozialdezernentinnen und Sozialdezernenten
der kreisangehörigen Kommunen zur Prüfung vorgestellt. Die Stadt Dormagen hat
daraufhin Bedenken hinsichtlich sogenannter „P-Konten“ und der
Mittagsverpflegung geäußert, die Stadt Kaarst teilt diese Ansicht und sieht
darüber hinaus Schwierigkeiten im Bereich der (Schul-)Ausflüge aufgrund
möglicher Kontoüberziehungen.
„P-Konten“ unterliegen dem Pfändungsschutz bis zur
Pfändungsfreigrenze. Die Stadt Dormagen fürchtet eine Pfändung der Bildungs-
und Teilhabeleistungen oberhalb der Pfändungsfreigrenze, wodurch die Leistung
den Anspruchsberechtigten nicht zur Verfügung stehen würde.
Sozialleistungen sind grundsätzlich gemäß § 54 SGB I
unpfändbar. Die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepaketes stellen
personalisierte Dienst- und Sachleistungen dar, die gemäß § 54 Abs. 1 SGB I
unpfändbar sind. Darüber hinaus sind Leistungen des Kindes gemäß § 54 Abs. 5
SGB I nur aufgrund gesetzlicher Unterhaltsansprüche pfändbar.
(Schul-)Ausflüge werden als Einmalzahlung in
tatsächlicher Höhe erbracht. Die Stadt Kaarst ist der Auffassung, dass dies
eine Gefahr bergen könnte, wenn Girokonten überzogen werden und Überweisungen
nicht mehr zulässig sind.
Das Jobcenter Rhein-Kreis Neuss wurde in seiner
Funktion als größte kreisangehörige Leistungsbehörde auf Ebene der
Sachbearbeitung um eine Einschätzung gebeten. Aus der Praxis sind hier keine
Probleme mit „P-Konten“ oder möglichen Kontoüberziehungen bekannt, den
Leistungsberechtigten wird eine Bescheinigung über den Leistungsbezug zur
Vorlage bei den Kreditinstituten ausgestellt. Eine Pfändung von
Sozialleistungen erfolgt nicht, unzulässige Überweisungen aufgrund von
Kontoüberziehungen sind nicht bekannt. Die Bedenken, dass Bildungs- und
Teilhabeleistungen gepfändet werden könnten, werden daher nicht geteilt.
Darüber hinaus bewertet die Stadt Dormagen das
aktuelle Vorgehen bei der gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung (Direktzahlung)
als positiv und zielführend. Bei einer Umstellung der Erbringungsform wird mit
einem erheblichen Mehraufwand, der sich auch auf den Bereich
Finanzen/Vollstreckung auswirken könnte, gerechnet. Vor diesem Hintergrund
schlägt die Stadt Kaarst eine Erprobungsphase vor, in der zunächst selektive
Leistungen als Geldleistung erbracht werden.
Die Kreisverwaltung sieht einen vorübergehenden Mehraufwand im Zuge
der Erbringungsformumstellung ebenfalls als sehr wahrscheinlich an. Die
Entstigmatisierung und die Stärkung der Eigenverantwortung der
Leistungsberechtigten sind aus Sicht der Verwaltung jedoch stärker zu
gewichten. Ein Großteil der anspruchsberechtigten Kinder und Jugendlichen
bezieht Leistungen der gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung. Eine
Ausklammerung dieser Leistungskomponente aus der Erbringungsformumstellung
würde der beabsichtigten Regelung und der damit einhergehenden
Entstigmatisierung entgegenwirken.
Die Kreisverwaltung stellt die wesentlichen
Entscheidungsgründe für eine Umstellung auf die Erbringungsform der
Geldleistung detailliert in der Sitzung vor.
Digitalisierungs-TÜV
( ) Digitalisierungspotential vorhanden.
( ) Digitalisierungspotential
muss geprüft werden.
(x) Kein Digitalisierungspotential (derzeit) erkennbar.