Beschlussempfehlung:

Der Naturschutzbeirat erhebt keinen Widerspruch gegen die Gewährung von Befreiung gem. § 67 Abs. 1 BNatSchG für die Sanierung des Stingesbachsammlers entsprechend der vorgestellten Planung der InfraStruktur Neuss AöR.


Sachverhalt:

Die Infrastruktur Neuss AöR (ISN) plant die Sanierung des Stingesbachsammlers (Regenkanalisation, DN 1000) im Bereich zwischen dem Further Kirmesplatz und der DB-Linie Neuss-Krefeld. Die Sanierung ist aus hydraulischen und altersbedingten Gründen erforderlich.

 

Im Rahmen der Generalentwässerungsplanung für das Einzugsgebiet dieses Sammlers wurde eine hydraulische Überlastung nachgewiesen. Der Sammler kann in seiner derzeitigen Lage im Grünzug / Wald nicht oder nur unter erheblich erschwerten Bedingungen unterhalten werden. Er liegt teilwiese frei. Nach Abschluss der Neubauarbeiten wird diese Trasse aufgegeben. Der alte Sammler verbleibt zur Vermeidung weiterer Eingriffe im Boden und wird verschlossen.

 

Vorgesehen ist der Neubau eines Sammlers DN 1200 auf einer Länge von rund 1.050 m. Die neue Trasse orientiert sich an einem vorhandenen Fuß- und Radweg durch den Grünzug / Wald. Ergänzend sind zwei Überlaufschächte / Quelltöpfe vorgesehen, aus denen bei Starkregen und Überlastung das Regenwasser austreten und sich schadlos unter Überstauung der Waldfläche (max. 50 cm) verteilen kann. Der Abfluss erfolgt nach Beendigung des Überstaus durch diese Quelltöpfe.

 

Im Zuge dieser Maßnahme ist auch die Erneuerung von rund 200 m Schmutzwasserleitung einschließlich Druckleitung zur Entwässerung des Kirmesplatzes mit Anbindung an die Furtherhofstraße geplant. Im Bereich des Kirmesplatzes ist der Bau eines unterirdischen Regenrückhaltebeckens geplant.

 

Die Bauzeit ist insgesamt für 24 Monate geplant. Baubeginn soll Anfang des Jahres 2023 sein.

 

Für die Baumaßnahme muss eine 10 m breite Trasse auf der gesamten Länge hergestellt werden. Diese ist mit umfangreichen Rodungsarbeiten verbunden. Die Breite ergibt sich aus 3 m Verlegegraben (offene Verlegung) und der erforderlichen Baustraße als Arbeitsraum. Eine grabenlose Verlegung (z. B. Spülbohrverfahren, Horizontalbohrverfahren) ist aufgrund der geringen Überdeckung des Sammlers und seiner Größe nicht möglich.

Nach Abschluss der Arbeiten wird der 3 m breite Fuß- und Radweg wiederhergestellt. Aufgrund der geringen Tiefenlage muss der Weg an einigen Stellen aufgehöht und an das umliegende Gelände angepasst werden. Die Restflächen werden wieder aufgeforstet.

 

Andienung und Baustelleneinrichtung erfolgen über die Furtherhofstraße. Der Baustellenverkehr erfolgt als Einbahnstraßenverkehr ohne Wendemöglichkeiten.

 

Eine Landschaftspflegerische Begleitplanung sowie eine Artenschutzprüfung (Stufe I) wurden erstellt.

 

Andienung und Baustelleneinrichtung liegen außerhalb des LSG.

 

Der Standort liegt in der Neusser Nordstadt im Landschaftsschutzgebiet (LSG) „Stingesbachaue mit Dreieckswäldchen und Baggersee“ nach dem Landschaftsplan I – Neuss – des Rhein-Kreises Neuss (LP I). Die Festsetzungen für Landschaftsschutzgebiete untersagen die im Zuge der Baumaßnahmenvorgesehenen Eingriffe in Natur und Landschaft einschließlich der Verlegung der Leitungen.

 

Der hier in Rede stehende Bereich ist in der Biotopkartierung NRW nicht aufgeführt. Er ist jedoch mit dem im Norden anschließenden Schackumer Bach (Stadt Meerbusch) als Biotopverbundfläche VB-D-4705-010 in der Landschaftsinformationssammlung NRW (@LINFOS) dargestellt.

 

Die Biotopverbundkarte der Stadt Neuss weist den Bereich der Stingesbachaue als besonders wertvolle Biotopverbundfläche aus.

 

Zur Legalisierung der geplanten Maßnahmen bedarf es der Gewährung von Befreiung gem. § 67 Abs. 1 BNatSchG. Diese kann auf Antrag gewährt werden, wenn

 

1.    Dies aus Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses, einschließlich solcher sozialer und wirtschaftlicher Art, notwendig ist oder

2.    Die Durchführung der (Verbots)Vorschriften im Einzelfall zu einer unzumutbaren Belastung führen würde und die Abweichung mit den Belangen von Naturschutz und Landschaftspflege vereinbar ist.

 

In Betracht kommt in diesem Fall die Alternative 1 (überwiegendes öffentliches Interesse). Hierzu muss ein öffentliches Interesse vorliegen, welches bei gerechter Abwägung und Gewichtung die durch die Baumaßnahme beeinträchtigten Belange von Natur und Landschaft überwiegt.

 

Ein öffentliches Interesse an der Sanierung des schadhaften und nach der Generalentwässerungsplanung zu gering bemessenen Sammlers zur Sicherung der schadlosen Abführung von Niederschlagswasser besteht.

 

Der Eingriffsraum innerhalb des LSG umfasst etwa 10.130 qm:

 

·         Etwa 7.208 qm Wald und Waldrand,

·         Etwa 593 qm Wiese und

·         Etwa 2.329 qm Weg

 

Der von der Baumaßnahme betroffene Waldbestand setzt sich überwiegend aus Esche und Kirsche mittleren Alters zusammen. 7 Bäume mit einem Stammdurchmesser =/> 50 cm sind betroffen. Die Bestände werden mit Ausnahme von 311 qm dauerhaftem Verlust wiederhergestellt. Am Ort werden 6.969 qm Wald wieder aufgeforstet. Die dauerhaft in Verlust geratenden Anteile rühren von den frei zu haltenden 3 m breiten Streifen an den seitlich abzweigenden Trassenabschnitten her (Anlage als Schotterrasen) sowie für Wartungszwecke dauerhaft frei zu haltende Flächen. Für diese Anteile erfolgt eine Ersatzaufforstung über ein Ökokonto der Stadt Neuss.

 

Für den Notfall ist ein Überstau der Waldfläche vorgesehen. Bereits heute tritt dieser Fall auf. Zur Reduzierung der Mengen ist das Regenrückhaltebecken im Bereich des Kirmesplatzes (außerhalb des LSG) geplant. Nach Entlastung des Kanals wird ein Teil des Stauwassers wieder in diesen zurückfließen. Die berechnete Einstauzeit liegt bei etwa 4 Stunden und dürfte unter Berücksichtigung der Artenzusammensetzung im Wald für diesen unschädlich sein. Dieser Fall wird jedoch insgesamt als nur sporadisch wiederkehrend und eher unwahrscheinlich angesehen.

 

Soweit Flächen im Wald als Baustraße genutzt werden, werden diese mit einem Trennvlies abgedeckt und erhalten eine 20 cm starke Kalkschotterschicht, die anschließend wieder beseitigt wird.

 

Insgesamt wird der Eingriff durch den Neubau des Sammlers und der abzweigenden Kanäle hauptsächlich temporäre Eingriffe mit sich bringen, wenngleich die wieder anzulegenden Waldflächen geraume Zeit benötigen, um ihre früheren Funktionen wieder zu erfüllen.

 

Dauerhafte Waldverluste sind im Verhältnis 1:2 zu kompensieren. Das bilanziell verbleibende Defizit an ökologischen Wertpunkten (13.638), welches nicht durch Wiederherstellungsmaßnahmen am Ort kompensiert werden kann, soll durch die Inanspruchnahme eines Ökokontos kompensiert werden.

 

Der artenschutzfachliche Beitrag kommt zu dem Ergebnis, dass unter Berücksichtigung verschiedener Vermeidungsmaßnahmen (insbesondere Rodungszeiten und Reduzierung der in Anspruch zu nehmender Flächen ökologische Baubegleitung) eine Betroffenheit planungsrelevanter Arten auszuschließen ist.

 

Taugliche Trassenalternativen zu der in der Planung gewählten Linienführung, die mit weniger Eingriffen in Natur und Landschaft verbunden wären, bestehen nicht.

 

Der heutige Sammler liegt am Nordrand des Waldbereiches unmittelbar an der Bebauung. Die jetzt geplante Trasse orientiert sich an dem vorhandenen Fuß- und Radweg.

 

Auf Anforderung der Unteren Naturschutzbehörde wurde seitens der ISN aktuell nochmals zu Fragen des Erfordernisses der Sanierung im geplanten Umfang und zu Trassenalternativen Stellung genommen. Diese Ergänzung ist als Anlage beigefügt.

 

Die Planung zur Sanierung des Sammlers entspricht dem genehmigten Abwasserbeseitigungskonzept (ABK) sowie der Generalentwässerungsplanung (GEP) der Stadt Neuss. Dem Sammler fließen die Niederschlagswassermengen aus den nördlich wie südlich gelegenen Siedlungsgebieten zu.

Der Sammler ist seit Jahren überlastet. Die Situation der Niederschlagswasserabführung hat sich durch neue Baugebiete in der Stadt Neuss zugespitzt. Eine Vergrößerung von DN 1000 auf DN 1200 ist erforderlich.

Der heutige Sammler hat erhebliche Strukturschäden und ist stellenweise einsturzgefährdet. Durch seine Lage im Grünzug / Wald ist eine Unterhaltung sehr schwierig bis nicht möglich, da der Kanal nicht angefahren werden kann. Er muss erneuert werden, dies nach den Vorgaben des ABK und der GEP der Stadt Neuss.

 

Theoretisch käme eine Neuverlegung in der bestehenden Trasse in Betracht. Diese wäre jedoch mit erheblich größeren Eingriffen in Natur und Landschaft verbunden, da dort keine Wegetrasse zur Verfügung steht und ein Unterhaltungsweg erst angelegt und dauerhaft freigehalten werden müsste. Auch dieser Bereich liegt im festgesetzten Landschaftsschutzgebiet, welches nördlich und südlich bis an die Wohngrundstücke reicht.

 

Eine Neuverlegung im Bereich der nördlich und südlich gelegenen Wohngebiete selbst scheidet aus topographischen Gründen sowie unter Berücksichtigung des dort bestehenden Kanalnetzes und der unverhältnismäßig hohen Kosten und des Aufwandes ebenfalls aus.

 

Daher hat sich der Projektträger für die Verlegung im Bereich des bestehenden Fuß- und Radweges entschieden. Der bestehende Kanal bleibt zur Vermeidung von Eingriffen in Natur und Landschaft im Boden.

 

Die Wahl der Trasse im Bereich des bestehenden Fuß- und Radweges ist aus Sicht des Naturschutzes und der Landschaftspflege nicht zu beanstanden. Der Weg wird nach seiner Wiederherstellung als Unterhaltungsweg für den Sammler dienen. Obwohl auch hier unvermeidbar eine temporäre Arbeitstrasse unter Beseitigung von Bäumen und Sträuchern angelegt werden muss, ist der Eingriff an dieser Stelle unter Berücksichtigung der bereits gegebenen Situation geringer, als an anderen Stellen des für eine Verlegung nur in Frage kommenden Gebietes der Stingesbachaue.

 

Verschiedene Bürgerinnen und Bürger aus der Stadt Neuss haben sich gegen das Vorhaben gewandt und eine Eingabe an das MUNV NRW gerichtet. Sie bitten um Überprüfung der Rechtfertigung des Vorhabens. Taugliche Alternativen werden jedoch nicht aufgezeigt.

 

An der Sanierung des Sammlers in der vorgegebenen Größe in diesem Bereich besteht ein nicht in Abrede zu stellendes öffentliches Interesse zur Sicherung der schadlosen Ableitung des Niederschlagswassers.

 

Angesichts fehlender tauglicher Alternativen außerhalb dieses Raumes und der vorgesehenen Maßnahmen zur Vermeidung und Verringerung des mit der Verlegung verbundenen Eingriffs in Natur und Landschaft muss dieses öffentliche Interesse in der gebotenen Abwägung nach § 67 Abs. 1 Ziff. 1 BNatSchG als die dadurch überwiegend temporär beeinträchtigten Belange von Natur und Landschaft überwiegend anerkannt werden.

 

Die Untere Naturschutzbehörde beabsichtigt daher die Gewährung von Befreiung gem. § 67 Abs. 1 Ziff. 1 BNatSchG sowie die Erteilung der erforderlichen Eingriffsgenehmigung gem. § 17 Abs. 3 BNatSchG.

 

Vertreter/innen der ISN stehen in der Sitzung für Erläuterungen und Rückfragen zur Verfügung.