Sachverhalt:
Einleitung
Am 14. Juli 2021 hat
ein Starkregenereignis große Teile von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz
getroffen. Hierdurch wurde eine Flutkatastrophe ausgelöst, die viele
Menschenleben gekostet hat und erhebliche Sachschäden verursachte. Das Ereignis
und seine verheerenden Folgen haben den Fokus der Öffentlichkeit auf den
Katastrophenschutz gelenkt. Themen wie „Warnung der Bevölkerung“,
„Krisenmanagement“ oder „Einsatz von ehrenamtlichen Helfern bei Katastrophen“
haben vor dem Hintergrund der Fernsehbilder aus unseren Nachbarregionen im
Rhein-Erft Kreis und im Kreis Euskirchen die öffentliche Diskussion in einer
bislang nicht gekannten Intensität beherrscht.
Im Folgenden soll
beleuchtet werden, wie der Katastrophenschutz in seinen Grundzügen geregelt ist
und wie sich die konkrete Situation im Rhein-Kreis Neuss in der Lage ab dem 14.
Juli 2021 dargestellt hat.
Die hier gemachten
Ausführungen zielen nicht auf einen Vergleich mit der Arbeit der Krisenstäbe in
den tatsächlich betroffenen Regionen ab und sind entsprechend vollkommen
losgelöst von einem solchen Gedanken zu betrachten!
Keine Übung bildet eine
reale Lage ab, Übungen sind stets nur fiktive Planspiele, die auf den Ernstfall
vorbereiten sollen. In der Realität sind die in den Verwaltungen, den
Krisenstäben, der Einsatzleitung und in den vor Ort eingesetzten Einheiten z.B.
von Feuerwehr oder Rettungsdienst oftmals selbst von der Katastrophe
unmittelbar betroffene Menschen, die sich um Angehörige oder ihr Eigentum
sorgen oder sogar entsprechende Verluste verkraften müssen. Viele werden ebenso
sehr wie am Arbeitsplatz oder der Einsatzstelle auch zu Hause dringend
benötigt. Unter dieser Anspannung und Belastung leisten diese Menschen ihre
Arbeit nunmehr seit dem 14. Juli 2021.
Zuständigkeiten
Auf Grundlage der
gesetzlichen Regelungen ist der Katastrophenschutz in der Bundesrepublik
Deutschland und in Nordrhein-Westfalen auf viele Ebenen und verschiedene
Akteure verteilt. Wesentliche Rechtsgrundlage bildet in NRW das Gesetz über den
Brandschutz, die Hilfeleistung und den Katastrophenschutz (BHKG).
Gemäß § 35 Abs. 1 BHKG
leiten und koordinieren die kreisfreien Städte und Kreise die Abwehrmaßnahmen
bei Großeinsatzlagen und Katastrophen. Sie richten Krisenstäbe (administrative
Ebene) und Einsatzleitungen (operativ-taktische Ebene) ein.
Unterhalb der Schwelle
einer Großeinsatzlage oder einer Katastrophe liegende Einsatz- und
Schadenslagen fallen gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 BKHG in die Zuständigkeit der
kreisangehörigen Kommunen. Das BHKG benennt in § 1 Abs. 1 Nr. 2 als derartige
Fallkonstellation „Unglücksfälle oder solche öffentlichen Notstände, die durch
Naturereignisse, Explosionen oder ähnliche Vorkommnisse verursacht werden“ und
definiert diese mit dem Begriff der „Hilfeleistung“.
Bei den kreisfreien
Städten entfällt diese Aufteilung, was eine erhebliche Vereinfachung darstellt.
Somit haben innerhalb
eines Kreises alle kommunalen Verwaltungen entsprechende personelle, sachliche
und organisatorische Vorkehrungen eigenverantwortlich zu treffen, sofern nicht
von der Möglichkeit des § 2 Abs. 3 BHKG Gebrauch gemacht wird, zur Wahrnehmung
einzelner Aufgaben nach dem BHKG öffentlich-rechtliche Vereinbarungen zu
schließen, z.B. durch Errichtung eines gemeinsamen Gefahrenabwehrzentrums.
Alle im BHKG genannten
Akteure führen ihre Aufgaben als Pflichtaufgabe zur Erfüllung nach Weisung
durch.
Auf dieser gesetzlichen
Grundlage sind die Befugnisse und die Umsetzung der Entscheidungen der
Einsatzleitung in der operativ-taktischen Ebene durch die Feuerwehren durch
klar vorgegebene Zuständigkeiten geregelt und in zahlreichen Erlassen teilweise
sogar im Detail vorgegeben. Darüber hinaus agieren die Feuerwehren auch im
„Alltagsgeschäft“ auf Basis derartiger Strukturen.
Krisenstäbe hingegen
wurden in der Vergangenheit eher selten für tatsächlich eingetretene
Schadenslagen eingerichtet. Die Entscheidungswege und die sich anschließende
Umsetzung von Arbeitsaufträgen unterscheiden sich erheblich von der sonst in
den Verwaltungen gelebten Praxis. In einer Großeinsatzlage sind die
Verwaltungen darüber hinaus ganz wesentlich auf externe Akteure (z.B. Kräfte
der kreisangehörigen Kommunen, Hilfsorganisationen, Einsatzeinheiten, DLRG,
THW) angewiesen.
Inhaltliche Vorgaben
des Landes sind in einem Runderlass des Ministeriums für Inneres und Kommunales
vom 26. September 2016 lediglich für den Aufbau, die Zusammensetzung und
bestimmte Meldewege durch das Land vorgeben. Für die kreisangehörigen Kommunen
empfiehlt das Land im vorgenannten Erlass lediglich die Einrichtung eines Stabs
für außergewöhnliche Ereignisse (SAE).
Zur Abarbeitung einer
Großeinsatzlage im Sinne des BHKG, in der Krisenstab und Einsatzleitung
aktiviert sind, ist die Kommunikation und der Informationsaustausch beider
Stäbe untereinander wesentliche Voraussetzung.
Eine Ausnahme in der
praktischen Arbeit des Krisenstabes des Rhein-Kreises Neuss bildet dessen
Arbeit im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie. Die Arbeit folgt hierbei,
insbesondere aufgrund der langen Dauer des Ereignisses eigenen Verfahren und
Prozessen, die sich im Laufe der vergangenen 18 Monate aus der praktischen
Stabsarbeit entwickelt haben. Die Stabsarbeit dient in der Corona-Lage im
Wesentlichen zur Sicherstellung von Informationsflüssen, kurzen
Entscheidungswegen und des fachlichen Austauschs und der Steuerung der Kooperation
der beteiligten Fachämter und -abteilungen.
Planungen
Es ist nachvollziehbar,
dass derzeit aufgrund der Aktualität der Thematik aus verschiedenen Richtungen
der Wunsch geäußert wird, für denkbare Krisenszenarien passgenaue Pläne zu
entwickeln, die im Ernstfall nur umgesetzt werden müssen. Derartig konkrete
Planungen sind im Katastrophenschutz jedoch nicht zielführend. Vielmehr müssen
der Katastrophenschutz im weiteren Sinne und der Krisenstab der Kreisverwaltung
und der operativ-taktische Stab im engeren Sinne so vorbereitet sein, dass auf
verschiedene Lagen und deren jeweils konkrete Auswirkungen flexibel reagiert
werden kann.
Das Erfthochwasser und
auch die Corona-Pandemie haben belegt, dass Lagen sehr dynamisch verlaufen und
sich innerhalb der Lageentwicklung stets neue Gefahren, Risiken oder
Problemstellungen ergeben können, die oftmals nicht vorhersehbar waren. Die
Planung muss daher so angelegt sein, dass die Stäbe in möglichst kurzer Zeit
Entscheidungen treffen können, die in der ersten Phase einer Lage in der Regel
eine Reaktion auf bereits eingetretene Ereignisse darstellen, jedoch
schnellstmöglich Maßnahmen abbilden, die weitere Schäden abwenden oder
zumindest deren Auswirkung so weit als möglich abmildern. Das Ziel der Arbeit
ist es „vor die Lage zu kommen“, also präventive Maßnahmen zu entwickeln.
In diesem Sinne hat der
Rhein-Kreis Neuss verschiedene Vorplanungen für denkbare Krisenszenarien
erstellt und entsprechende Übungen des Krisenstabes durchgeführt, um die
notwendigen Abläufe, Prozesse und Entscheidungsfindungen zur Bewältigung von
Großschadensereignissen zu proben. Die Übungen finden jährlich statt und werden
im Kreishaus Grevenbroich, an der Bundesakademie für Bevölkerungsschutz und
Zivile Verteidigung (BABZ) [die frühere Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung
und Zivilschutz (AKNZ)], oder am Insititut der Feuerwehr in Münster
durchgeführt. Hierdurch wird eine fachliche Begleitung der Übungen
sichergestellt. Die externe Bewertung hilft darüber hinaus,
Verbesserungspotentiale aufzuzeigen.
Die gewaltigen Schäden
an der gesamten Infrastruktur in den vom Erfthochwasser betroffenen Gebieten
haben aufgezeigt, welche enormen Herausforderungen sich an das örtliche
Krisenmanagement der betroffenen Landkreise und Kommunen innerhalb weniger
Stunden ergeben können.
Obwohl im Rhein-Kreis
Neuss durch das Erfthochwasser keine Großeinsatzlage im Sinne des BHKG
eingetreten ist, wurden die gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen in einer
gemeinsamen Besprechung aller Beteiligten der Kreisverwaltung und unter
Einbeziehung der Städte Neuss und Grevenbroich unter Leitung des Kreisdirektors
am 22. Juli 2021 nachbesprochen. Ziel der Besprechung war es, für die Zukunft
zu lernen und erste Maßnahmen zur Weiterentwicklung des Katastrophenschutzes und
der Krisenstabsarbeit im Rhein-Kreis Neuss zu entwickeln. Durch die Teilnahme
des Kreisbrandmeisters war hierbei auch die operativ-taktische Ebene
einbezogen.
Die gesetzlich
normierte Zuständigkeitsverteilung macht auch deutlich, warum die
Kreisverwaltung bestimmte Planungen nicht selbst vornimmt, sondern im
Bedarfsfall auf die kreisangehörigen Kommunen zugreifen würde. Am Beispiel der
Unterbringungsmöglichen von Menschen im Falle einer Evakuierung kann dies gut
nachvollzogen werden: Die kreisangehörigen Kommunen verfügen über entsprechende
Planungen, die u.a. bei Bombenentschärfungen (also Lagen unterhalb der Schwelle
zur Großeinsatzlage oder Katastrophe) regelmäßig in Anspruch genommen werden
müssen. Im Falle einer Großeinsatzlage, bei der die Zuständigkeit und Leitung
der erforderlichen Maßnahmen auf den Kreis übergeht, kann lagebezogen auf diese
Informationen und die entsprechenden Mittel durch den Kreis zugegriffen werden.
Warnung der Bevölkerung
Die Warnung der
Bevölkerung ist in Nordrhein-Westfalen durch den „Warnerlass“ des
Landesinnenministeriums vom 26. Mai 2020 detailliert geregelt.
Der Rhein-Kreis Neuss
verfügt über ein Warnkonzept, welches die verschiedenen Warnmöglichkeiten
darstellt. Insbesondere stehen folgende Möglichkeiten zur Verfügung:
Ø Pressemitteilungen
Ø unmittelbare
Kommunikation über die reichweitenstarken Social Media Kanäle des Kreises
Ø Warn-App NINA
Ø Warnung über das
Sirenennetz
Ø Lautsprecherdurchsagen
über Fahrzeuge der Feuerwehr, Polizei sowie des THW
Ø außerhalb der Zeiten,
in denen die Redaktion des Lokalsenders News 89,4 besetzt ist, haben die
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Kreises sowie die Leitstelle die
Möglichkeit, ortsunabhängig und jederzeit das laufende Programm von News 89,4
zu unterbrechen und hierüber eine Bevölkerungswarnung abzusetzen
Ø Inbetriebnahme einer
Telefon-Hotline, die aus einem Personalpool der Kreisverwaltung besetzt wird
Der an 365 Tagen im
Jahr rund um die Uhr besetzten Kreisleitstelle fällt in den meisten Fällen die
operative Umsetzung bei der Auslösung von Warnungen zu. Der Warnerlass des
Landes gibt u.a. Details vor, wie zu warnen ist. So sind beispielsweise
Textbausteine vorgeschrieben, die bei entsprechenden Schadenslagen für eine
Meldung über die NINA-Warn-App zu versenden sind. Die App selbst ist vom Bund
beauftragt worden. Der Rhein-Kreis Neuss hat somit keine unmittelbaren
Möglichkeiten auf Entwicklung, Gestaltung oder Inhalte der Warn-App Einfluss zu
nehmen.
Für die Warnung mittels
Sirenen stehen 3 Warntöne zur Verfügung: Warnton 1: Feueralarm, Warnton 2:
Warnung der Bevölkerung, Warnton 3: Entwarnung. Die Kreisleitstelle kann
innerhalb weniger Sekunden eine flächendeckende oder lageabhängig auf ein
Schadensgebiet bezogene Auslösung der Sirenen durchführen. Welche konkrete
Gefahr droht, ist jedoch für die Bevölkerung aus dem Signal „Warnung der
Bevölkerung“ in keiner Weise zu erkennen, so dass sich die Menschen die
erforderlichen Informationen auf anderem Wege zugänglich machen müssen.
Im Rahmen der Teilnahme
des Kreises am regelmäßig stattfindenden „Landeswarntag“ wird durch die Presse-
und Öffentlichkeitsarbeit mit Pressemitteilungen und in den Social Media
Kanälen die Bevölkerung über die Sirenenwarnung informiert. Zur
Veranschaulichung wurde eine Grafik erstellt, die die einzelnen Sirenensignale
und deren Bedeutung erklärt. Diese Grafik wird von vielen Medien in der
Berichterstattung übernommen.
Die Zusammenarbeit mit
dem Lokalsender News 89,4 wurde zuletzt bei einem bereits vor der Unwetterlage
terminierten Treffen zum Thema Warnung der Bevölkerung zwischen dem
Chefredakteur, dem Kreissprecher und dem Leiter der Leitstelle am 21. Juli 2021
aufgegriffen und weiter gefestigt. Zudem hat der regelmäßig tagende
Arbeitskreis der Pressesprecherinnen und Pressesprecher des Kreises, der
Kommunen und der Polizei in Kürze ein ebenfalls bereits vor der Hochwasserlage
abgestimmtes Treffen zum Thema Krisenkommunikation, an dem auch die Neuß
Grevenbroicher Zeitung sowie News 89,4 teilnehmen.
Am 04.08.2021 hat die
Kreisleitstelle mit der im Auftrag des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz
tätigen Betreiberfirma für das modulare Warnsystem MoWaS eine Vereinbarung
unterzeichnet, auf deren Grundlage zukünftig Warnmeldungen auch auf den im
Kreisgebiet vorhandenen kommunalen Stadtinformationsanlagen zu sehen sein
werden.
Unwetter- und Hochwasserlage vom 14. bis 19. Juli
2021
Den Verlauf der
Ereignisse im Rhein-Kreis Neuss vom 14. bis 19. Juli 2021 hat die Verwaltung in
einem Zeitstrahl dokumentiert. Diese beigefügte Übersicht gibt Aufschluss zu
den Informationen, die der Kreisverwaltung vorgelegen haben, und den auf dieser
Basis jeweils getroffenen Entscheidungen und durchgeführten Maßnahmen.
Eine erste Warnung an
die kreisangehörigen Kommunen, an die Medien und über Social Media erfolgte
durch die Kreisverwaltung bereits am Dienstag, den 13. Juli 2021 auf Grundlage
der Meldung des Deutschen Wetterdienstes. Diese wurde unmittelbar nach ihrem
Eingang von der Kreisleitstelle und dem Kreisbrandmeister gesichtet, bewertet
und mit der Empfehlung einer Informationsweitergabe an den Leiter des
Kreisordnungsamtes und den Kreissprecher übermittelt. Im Rahmen der
Lageentwicklungen sind weitere Warnungen über die Medien erfolgt, die
Pressestellen des Kreises und der Städte Neuss und Grevenbroich haben hierbei
eng zusammengewirkt.
Der Zeitstrahl macht
deutlich, dass der Leiter des Krisenstabes und der Kreisbrandmeister alle
Voraussetzungen geschaffen haben, um einerseits den gesetzlichen
Zuständigkeiten nach den Vorgaben des BHKG zu entsprechen und andererseits bei
einer sich abzeichnenden Zuspitzung der Lage die Verantwortung und Leitung der
Lage unverzüglich an sich ziehen zu können. Der Krisenstab der Verwaltung war
aktiviert, die Einsatzleitung der operativ-taktischen Ebene war durch den
Kreisbrandmeister voralarmiert und wäre somit in kürzester Zeit einsatzbereit
gewesen. Hier gilt ein besonderer Dank den ehrenamtlichen Kräften, die in der
Einsatzleitung mitwirken, insbesondere den Kräften der Feuerwehren aus
Grevenbroich und Meerbusch, die als Besatzung des Einsatzleitwagens 2 (ELW 2)
ihren Dienst versehen.
Bei der Einberufung des
Krisenstabes erfolgte auf Weisung des Leiters des Stabes die Anforderung eines
Verbindungsbeamten der Stadt Neuss und der Stadt Grevenbroich. Im Rahmen von
Übungen des Krisenstabes wurden in der Vergangenheit wiederholt kommunale
Vertreter als sogenannte „ereignisabhängige Mitglieder“ in die Stabsarbeit
eingebunden. Durch die Voralarmierung der Mitglieder des Krisenstabes, der
Koordinierungsgruppe des Krisenstabes (KGS) und der kreisangehörigen Kommunen
am Dienstag, den 13. Juli 2021 ist es gelungen, die erste Stabssitzung mit
voller Besetzung eine Stunde nach der um 23.30 Uhr angewiesenen Einberufung um
0.30 Uhr zu starten. Innerhalb dieser Stunde hat die KGS nicht nur die
Alarmierung durchgeführt, sondern auch den Kreissitzungssaal für die
Durchführung der Sitzung hergerichtet.
Die Zusammenarbeit und
Kommunikation mit den Städten Neuss und Grevenbroich im Rahmen der Lage vom 14.
bis 19. Juli 2021 funktionierte sehr gut, insbesondere auf den Ebenen der Dezernenten
/ Beigeordneten, der Ordnungsämter und der Pressestellen.
Die Lagebetrachtung
erfolgte am Abend des 14. Juli 2021 anhand vorgefertigter Karten, die von der
Unteren Wasserbehörde in aktueller Form vorgehalten werden. Die Schwierigkeit
bei der Lageeinschätzung resultierte aus dem Umstand, dass zu Beginn der Lage
keine eindeutigen, validen Informationen zur Entwicklung des Erftpegels zur
Verfügung gestellt werden konnten, und zwar weder zur Wassermenge noch zur
Zeitschiene. Dieser Hinweis dient nicht als Vorwurf an den Erftverband, der zu
diesem Zeitpunkt selbst noch kein klares Lagebild hatte, sondern lediglich als
Darstellung der Fakten und der daraus resultierenden Schwierigkeit, schnelle
und richtige Entscheidungen in einem Krisenstab zu treffen, wenn sich zwar
mögliche Gefahren abzeichnen, diese aber noch nicht konkret eingeschätzt werden
können.
Eine weitere
Schwierigkeit in diesem Sinne resultierte aus dem Umstand, dass in den ersten
Stunden der Lage Pegelstände und Wassermengen der Erft sogar über dem „höchsten
anzunehmenden Wert“ (HQ-extrem) nicht gänzlich auszuschließen waren.
Auf dieser Basis wurden
im Krisenstab konkrete, präventive Maßnahmen besprochen. Die Evakuierung des
Albert-Schweitzer-Hauses, einer Pflegeeinrichtung mit 135 Plätzen, wurde durch
die Stadt Grevenbroich vorgeplant. Hierbei wirkte die WTG-Behörde des Kreises
in enger Abstimmung mit dem Sozialamt der Stadtverwaltung mit. Auf der Basis
der Vorplanung des Kreises für die Evakuierung einer Pflegeeinrichtung wurden
für alle Bewohnerinnen und Bewohner freie Platzkapazitäten in anderen
Pflegeeinrichtungen im Kreisgebiet ermittelt. Durch Freigabe einer
Einsatzeinheit des Katastrophenschutzes durch den Leiter des Kreiskrisenstabes
wäre auch die operative Umsetzung der Evakuierung sichergestellt gewesen.
Für die betroffenen
Pflegebedürftigen, deren Angehörige sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
der Einrichtung wäre eine solche Maßnahme eine erhebliche Belastung gewesen.
Daher hat die Stadt Grevenbroich nach intensiver Kommunikation mit dem
Krisenstab des Kreises und dem Betreiber der Einrichtung die vollkommen
richtige Entscheidung getroffen, die Evakuierung erst dann durchzuführen, wenn
eine unmittelbare Gefahr erkennbar wird. Um den notwendigen zeitlichen Vorlauf
für die Durchführung der Evakuierung sicherzustellen, wurden durch die KGS des
Kreiskrisenstabes der Erftpegel Glesch auf Basis fachlicher Informationen des
Erftverbandes ständig überwacht. Die notwendigen Kommunikations- und
Entscheidungswege wurden innerhalb des Stabes und mit den Städten Neuss und
Grevenbroich abgestimmt. Glücklicher Weise war dann eine Durchführung der
Evakuierung durch die Entwicklung der Gesamtlage nicht erforderlich.
Eine weitere präventive
Maßnahme galt dem Schutz der Tiere (insb. Pferde, Schafe und Kühe) am gesamten
Erftverlauf im Kreisgebiet. Das Kreisveterinäramt konnte auf Basis der dort
vorhandenen Daten am Morgen des 15. Juli 2021 telefonisch eine entsprechende
Warnung an alle Tierhalter aussprechen. Bei einer Zuspitzung der Lage wären die
Tiere durch diese Maßnahme bereits in Sicherheit gewesen.
Gegenseitige und landesweite Hilfe
Die
Hochwasserkatastrophe zeigt deutlich, dass kein Kreis und keine kreisfreie
Stadt die Auswirkung einer solchen Flächenlage alleine stemmen kann. Daher ist
die „gegenseitige und landesweite Hilfe“ im § 39 BHKG gesetzlich geregelt.
Nachdem erkennbar war,
dass im Rhein-Kreis Neuss nicht mehr mit dem Eintritt von Schäden durch ein
Erfthochwasser zu rechnen ist, wurden die betroffenen Kreise auch durch Kräfte
aus dem Rhein-Kreis Neuss nach entsprechender Anforderung über die vorgegebenen
Wege unterstützt. Dem beigefügten Zeitstrahl sind die einzelnen Anforderungen
zu entnehmen.
Mitarbeiter der
Kreisverwaltung waren darüber hinaus in ihren ehrenamtlichen Funktionen in den
Krisengebieten im Einsatz, sei es als Kräfte der Feuerwehr, dem THW oder in
Einsatzeinheiten des Katastrophenschutzes. Die Wichtigkeit und Erforderlichkeit
des Ehrenamtes bei der Bewältigung von Katastrophen kann nicht hoch genug
eingeschätzt werden!
Der völlige
Zusammenbruch der lebensnotwendigen Infrastruktur in den vom Hochwasser
betroffenen Gebieten (insb. Lebensmittelversorgung, Frischwasser, Abwasser,
Elektrizität, Kommunikation incl. Internet, Verkehr) führt deutlich vor Augen,
dass keine Planung oder Bevorratung mit Lebensmitteln oder Betriebsstoffen für
eine mittel- und längerfristige Krisenbewältigung durch jede einzelne
zuständige Behörde oder Gebietskörperschaft leistbar ist. Die betroffenen
Gebiete sind in solchen Fällen zwingend auf überregionale und
länderübergreifende Hilfen angewiesen.
Die Planungen des
Kreises sehen Mittel und Möglichkeiten vor, um im Großschadensfall lageabhängig
und kurzfristig eine Grundversorgung für eine flächenmäßig begrenzte Lage
vorzuhalten, damit die Zeit bis zum Eintreffen überörtlicher Kräfte und Hilfen
überbrückt werden kann.
Der Landrat und der
Kreisdirektor stehen mit den Verwaltungsspitzen der vom Hochwasser betroffenen
Nachbarregionen im engen Austausch, um Hilfebedarfe zu ermitteln und die
Möglichkeiten von Unterstützung im personellen oder sachlichen Bereich prüfen
zu können.
Einsatz von „Spontanhelfern“
Sofern der aktuellen
Krisenlage überhaupt etwas Positives abgewonnen werden kann, ist es die
Solidarität und Hilfsbereitschaft vieler Menschen für die in Not geratenen
Personen, Familien oder Firmen. Im Sprachgebrauch rund um die Krisenstabsarbeit
werden solche Freiwillige auch als „Spontanhelfer“ bezeichnet.
Das Institut für
Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement IAT an der Universität Stuttgart hat
den Umgang mit Spontanhelfern erforscht. Maßgebliches Kernstück dieser
Forschung war das Projekt REBEKA, an dem wesentlich ein Mitarbeiter des
Johanniter Landesverbandes NRW mitgewirkt hat. Durch diesen Kontakt haben im
Rhein-Kreis Neuss zwei Übungen stattgefunden, die den Einsatz von
Spontanhelfern zum Inhalt hatten: am 26.06.2018 wurde im Kreishaus Grevenbroich
eine Stabsrahmenübung durchgeführt (Übungsszenario: Hochwasser), am 20.10.2018
eine Vollübung mit Einsatzkräften.
Schon aus der medialen
Berichterstattung sind einerseits die Möglichkeiten für den Katastrophenschutz
deutlich geworden, die freiwillige Spontanhelfer bieten, jedoch wurde auch über
die Grenzen einer solchen Hilfsbereitschaft berichtet. So mussten teilweise
Straßen gesperrt werden, um den Strom der Freiwilligen aufzuhalten und die
wenigen noch passierbaren Strecken für die regulären Einsatzkräfte frei zu
halten.
Ausgesprochen wichtig
ist auch die Eigensicherung der Freiwilligen, damit diese in einem Einsatz-
oder Katastrophengebiet nicht selbst in Gefahr geraten.
Aufgrund der nunmehr in
der realen Lage gesammelten Erfahrungen wird die Steuerung und Organisation von
Spontanhelfern durch die Krisenstäbe und Einsatzleitungen sicherlich zu
reflektieren sein und als möglicher weiterer Baustein des Katastrophenschutzes
eine vermehrte Aufmerksamkeit erlangen.
Fazit und Ausblick
Der Rhein-Kreis Neuss
ist glücklicher Weise von den Auswirkungen des Erfthochwassers in den Tagen
nach dem Unwetter vom 14. Juli 2021 verschont geblieben.
Aufbau, Struktur und
Organisation des Krisenstabes des Kreises haben sich bewährt. Es muss weiterhin
geübt werden, damit eine ausreichende Zahl von Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern sowohl in der Leitungs- als auch in der operativen Ebene mit der
Arbeitsweise des Krisenstabes vertraut ist.
Die Zusammenarbeit
zwischen Krisenstab und operativ-taktischer Einsatzleitung muss gefestigt
werden, hierzu sind ebenfalls entsprechende Übungen erforderlich.
Der in der Lehre stets
genannte Leitsatz „In der Krise Köpfe kennen“ ist im Rhein-Kreis Neuss gut
umgesetzt. Auf der Ebene der Verantwortungsträger sowie auf der Arbeitsebene
sind zahllose persönliche Kontakte vorhanden, die kurze Wege für Informationen
und Entscheidungen ermöglichen.
Die Vorplanungen müssen
neben der zeitgemäßen digitalen Form auch in ausreichender Zahl und Aktualität
analog zur Verfügung stehen.
Die vorhandenen
Vorplanungen für Großeinsatzlagen und Katastrophen bedürfen einer regelmäßigen
Evaluierung. Die Verwaltung wird prüfen, ob und ggf. inwieweit hier
Verbesserungspotential für die internen Prozesse besteht. Dies wurde in der
oben beschriebenen Nachbesprechung angestoßen.
Auf Initiative des Landrates soll im Herbst eine Informations- und
Fachveranstaltung zur Hochwassergefahr im Rhein-Kreis Neuss durchgeführt
werden. Die Kreisverwaltung wird ein entsprechendes Konzept für die
Veranstaltung erarbeiten und zu gegebener Zeit dazu einladen. Über Rahmen und
Format wird im Hinblick auf die Coronaschutzverordnung nur kurzfristig
entschieden werden können.
Digitalisierungs-TÜV
( ) Digitalisierungspotential vorhanden.
( ) Digitalisierungspotential
muss geprüft werden.
( X ) Kein Digitalisierungspotential (derzeit) erkennbar.