Betreff
Urteil BVerfG zu Sanktionen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende
Vorlage
50/3605/XVI/2019
Art
Mitteilung

Sachverhalt:

 

Verfassungswidrigkeit von Sanktionen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Bezug von ALG II

 

§ 31 Abs. 1 SGB II regelt, in welchen Fällen erwerbsfähige Empfänger von Arbeitslosengeld II ihre Mitwirkungspflichten verletzen. Voraussetzung für die Annahme einer Pflichtverletzung ist dabei stets, dass die Betroffenen schriftlich über die Rechtsfolgen einer solchen Pflichtverletzung belehrt worden sind oder Kenntnis hiervon haben. Zudem ist erforderlich, dass der Betroffene keinen wichtigen Grund für sein Verhalten dargelegt und nachgewiesen hat.

 

Die Rechtsfolgen einer solchen Pflichtverletzung sind in § 31 a SGB II geregelt, während in § 31 b SGB II Beginn und Dauer der Sanktionen geregelt sind. Hiernach mindert sich der Anspruch des Betroffenen bei einer ersten Verletzung um 30% des für diesen maßgebenden Regelbedarfs, bei einer zweiten Verletzung um 60% und bei einer wiederholten Pflichtverletzung entfällt das Arbeitslosengeld II vollständig. Der Minderungszeitraum beträgt 3 Monate. Diese Sanktionen sollen der Durchsetzung des Nachranggrundsatzes dienen.

 

Rechtliche Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts

 

Das BVerfG hat mit seinem Urteil vom 05.11.2019 (Az.: 1 BvL 7/16) entschieden, dass die o.g. Bestimmungen teilweise verfassungswidrig sind.

 

Das BVerfG führt aus, dass mit dem Nachranggrundsatz der Gesetzgeber in zulässiger Weise das Sozialstaatsprinzip gem. Art. 20 abs. 1 GG ausgestaltet. Mit der Regelung der Mitwirkungspflichten und Sanktionen zur Durchsetzung des Nachranggrundsatzes wird diese Ausgestaltung ausgeweitet, was grundsätzlich zulässig ist. Es dürfen zumutbare Mitwirkungshandlungen verlangt werden, um die Hilfebedürftigkeit zu vermeiden, oder zu überwinden, soweit diese Handlungen auch geeignet und erforderlich sind.

 

Allerdings stellt das BVerfG strenge Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit solcher Sanktionen, da die Mitwirkungspflichten die Handlungsfreiheit der Betroffenen einschränken und daher einer entsprechenden Rechtfertigung bedürfen. Die Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers sind entsprechend eng, wenn der Gesetzgeber auf existenzsichernde Leistungen zugreift.

 

Nach Auffassung des BVerfG werden die Sanktionsregelungen dem strengen Maßstab an die Verhältnismäßigkeit nicht gerecht.

 

Nicht zu beanstanden ist danach eine Kürzung um 30% bei einem ersten Pflichtverstoß. Es wird für hinreichend tragfähig erachtet, dass die Sanktion wegen der abschreckenden Wirkung dazu motiviert, den Mitwirkungspflichten nachzukommen.

 

Verfassungswidrig sei es jedoch, bei einem weiteren Verstoß ohne weitere Prüfung den Anspruch zwingend zu mindern. Dabei wird insbesondere beanstandet, dass außergewöhnliche Härten im Einzelfall keine Berücksichtigung finden. Zudem führt das BVerfG aus, dass der starr andauernde Leistungsentzug über drei Monate die Grenzen des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums überschreitet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die vorübergehende Minderung existenzsichernder Leistungen für die Betroffenen eine harte Belastung darstellt. Eine solche Sanktion wäre daher nur zumutbar, wenn die Minderung endet, sobald die Mitwirkung erfolgt. Wenn die Mitwirkung nicht mehr möglich ist, muss dennoch in zumutbarer Zeit die Leistung wieder gewährt werden, wenn der Betroffene ernsthaft und nachhaltig seine Bereitschaft erklärt.

 

Auch die Höhe der Minderung von 60% ist nach Ansicht des BVerfG nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, da hierdurch zu weit in das grundrechtlich gewährleistete Existenzminimum eingegriffen wird. Das durch eine solche Sanktion beabsichtigte Ziel, könnte durch mildere Mittel hinreichend effektiv verfolgt werden. Zudem wird beanstandet, dass diese Sanktion auch in erkennbar ungeeigneten Fällen zwingend vorgegeben ist und wiederum eine starre Dauer von 3 Monaten vorgegeben wird.

 

Auch der vollständige Wegfall des Arbeitslosengeldes II nach § 31 Abs. 1 S. 3 SGB II wird als mit dem Grundgesetz nicht vereinbar angesehen. Da in diesem Fall neben dem Regelbedarf auch Leistungen für Mehrbedarfe sowie Unterkunft und Heizung und die Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung wegfallen, wird erheblich angezweifelt, dass diese Sanktion überhaupt dazu geeignet ist, das beabsichtigte Ziel zu fördern. Auch hier wären mildere Mittel denkbar. Außerdem muss dem Betroffenen die Möglichkeit eingeräumt werden, die Leistungen zu erhalten, wenn die Mitwirkung erfolgt beziehungsweise die ernsthafte und nachhaltige Bereitschaft zur Mitwirkung vorliegt. Nur wenn eine tatsächlich existenzsichernde und zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund verweigert wird, obwohl der Betroffene die Möglichkeit hatte, zu etwaigen Besonderheiten der persönlichen Situation vorzutragen, kann ein vollständiger Leistungsentzug gerechtfertigt sein.

 

Entschieden wurde ausdrücklich über die Verletzung von Mitwirkungspflichten der über 25-Jährigen.

 

Übergangsregelung

 

Bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung können die Leistungen bei einem ersten Pflichtverstoß um 30% gemindert werden. Allerdings ist zu gewährleisten, dass im konkreten Einzelfall bei Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte von einer Leistungsminderung abgesehen werden kann.

 

Bei einer wiederholten Pflichtverletzung darf die Leistungsminderung nicht mehr als 30% betragen. Wiederum sind besondere Härtefälle im Einzelfall zu berücksichtigen.

 

Die bisher geltende starre Dauer der Sanktion von 3 Monaten gilt weiterhin mit der Maßgabe, dass die Behörde die Leistung wieder erbringen kann, sobald die Mitwirkungspflicht erfüllt wird oder der Leistungsberechtigte sich ernsthaft und nachhaltig bereit erklärt, seinen Pflichten nachzukommen. Ab diesem Zeitpunkt darf die Minderung nicht länger als einen Monat andauern.

 

Hinweise des BAMS zur Rechtsanwendung in den Jobcentern

 

Mit Rundschreiben vom 28.10.2019 hat das BAMS vorläufige Hinweise zur Rechtsanwendung der in Rede stehenden Vorschriften formuliert.

 

Situation im Rhein-Kreis Neuss

 

Laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit wurden im Zeitraum Juli 2018 bis Juni 2019 in 3.758 Fällen Sanktionen ausgesprochen. In 244 Fällen erfolgte der Ausspruch von Sanktionen, weil die Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit, Ausbildung, AGH oder Maßnahme verweigert wurde. In 94 Fällen wurden Sanktionen ausgesprochen, weil eine Maßnahme abgebrochen wurde bzw. Anlass zum Abbruch einer Maßnahme bestand. Insgesamt sind weniger als 10% der Leistungsberechtigten von Sanktionen betroffen. Der weit überwiegende Teil der Sanktionen musste ausgesprochen werden, weil vereinbarte Termine im Jobcenter grundlos nicht wahrgenommen wurden.

 

Verfahrensweise der Bundesagentur für Arbeit

 

Die Bundesagentur für Arbeit verhängt ab sofort nur Sanktionen, deren maximale Sanktionshöhe 30% beträgt. Die jeweilige Sanktion endet spätestens einen Monat nach Nachholung der Mitwirkung. Mit Wirkung ab dem 05.11.2019 werden Sanktionsbescheide mit einer Sanktionshöhe von über 30% auf 30% reduziert.